Warum solltest du werden, wer du bist?
Ich mag Menschen, die kantig sind. Krumm im Sinne des chinesischen Sprichworts
Der krumme Baum lebt sein Leben, der gerade Baum wird ein Brett.
Kanten sind mir sehr sympathisch. Dir auch? Wie kannst du werden, wer du bist?
Unsere Gesellschaft und Wirtschaft profitiert von Menschen, die ihre Meinung sagen und auch mal gegen den Strom schwimmen. Wir brauchen weniger breite Masse, die mit dem Hauptstrom schwimmt, sondern ein paar mehr Vorschwimmer, Seitwärtskrauler oder Hochhüpfer. Für mehr Bewegung und Vielfalt in unserem Denken. Und in unserer Wirtschaft. Davon bin ich überzeugt.
Vielfalt ist beispielsweise eine wichtige Voraussetzung für Innovationen. Diese entstehen nicht dort, wo Prozesse immer gleich angegangen werden, sondern wo quer gedacht werden darf und soll. Nur wer sich einbringt, wie er ist (und nicht, wie es von ihr erwartet wird), kann etwas Neues addieren.
Ecken und Kanten fordern heraus
Keine Frage: Wenn du deine Ecken und Kanten zeigst, forderst du andere heraus. Wie viele Ecken und Kanten verträgt dein Umfeld?
Manchmal eckt man an, weil es schlicht nicht erwartet wird, dass jemand Klartext spricht. Manches Gegenüber nimmt es gleich persönlich.
Das fängt schon mit der Kleidung an. In den ersten Jahren meiner Selbständigkeit habe ich Kostüme in meinen Kleiderschrank gehangen – und angezogen. Weil ich dachte, ich müsse mich “in dieser Businesswelt eben so kleiden, um akzeptiert zu werden und dazu zu gehören“. Irgendwann merkte ich: Die Person im Kostüm ist mir fremd. Ich mag Kostüme einfach nicht, sie fühlen sich für mich an wie eine Uniform. Wer sie gerne trägt, wird sich wohl fühlen und gut durch den Tag gehen. Aber was, wenn man sie nicht mag? Anpassen, “weil man das so macht“? Oder “den eigenen Weg gehen” und diejenige sein, die man ist?
Positive Angriffsfläche bieten
Wäre gerade im Berufsleben nicht etwas mehr Individualität wünschenswert und aussagekräftiger? Während einer großen Immobilienmesse postete ein Freund aus der Münchener U-Bahn: „Wer viele Männer in grauen oder blauen Anzügen sehen will, soll bitte zur Messe kommen“. Meine spontane Antwort lautete „Mehr Entropie wäre schön“ – Entropie beschreibt in der Informationstheorie ein Maß für den Informationsgehalt. Denn ich freue mich, wenn Menschen ihrer Individualität Ausdruck geben. Auch wenn dies bisweilen mit Mut verbunden ist, schließlich lässt es dann nicht in blau-grauen Masse abtauchen.
Wer jedoch mehr von sich selbst und seiner Persönlichkeit zeigt, macht sich greifbarer. Bietet “Angriffsfläche” im positiven Sinne; die sich non-verbal ausdrückt.
Werden nicht gerade die Modemacher gefeiert, die Menschen dabei helfen, ihren individuell Stil auszudrücken? Mit ihrer Persönlichkeit nach außen zu strahlen? Sicher gehen wir alle nicht in Haute Couture zur Arbeit oder stehen auch nur jemals auf dem roten Teppich. Dennoch unterstreicht unsere Kleidung unsere Persönlichkeit und zeigt unser eigenes Ich. Häufig bietet sie damit sogar den ersten freundlichen Kontaktpunkt zu unserem Gegenüber.
Dieses „Ich bin, wie ich bin“ verschwindet im Geschäftsalltag leider allzu oft in der grauen Masse – weil “man” das so macht.
Wie viel Individualität verträgt der Berufsalltag?
Sicher sind die Freiheitsgrade je nach Beruf unterschiedlich. In der Bank etwa ist der Anzug gesetzt und vermittelt wichtige Seriosität. Dabei haben wir zuletzt in einer Studie mit Dialego sogar herausgefunden, dass es einige Menschen gibt, die Individualität begrüßen würden und ihren Bankberater gerne besser „zu fassen“ bekämen.
Wie sehr freue ich mich, wenn ich beispielsweise ein Häkelblümchen am Revers entdecke. Wie ich vielleicht sogar ein wenig dankbar bin, weil es mir als Ausgangspunkt für ein Gespräch dient, in dem ich mein Gegenüber ein wenig mehr kennen lerne. Jede Branche hat ihre eigenen Freiheitsgrade. Dem Künstler gesteht man ein schrilles Outfit zu, den Berater erwartet man im Anzug. Zumeist entdeckt man aber nur wenige, die von ihren Freiheitsgraden Gebrauch machen, diese gar bewusst einsetzen.
Wer ist dieser “man”, der alles so macht?
Nun geht es mir nicht darum, stets das Rad neu zu erfinden. Etablierte Verhaltensweisen, erprobte Routinen und Muster, bekannte Regeln: Sie helfen in vielen Momenten, so viel steht fest. Dennoch dürfen sie unserer Entwicklung nicht im Weg stehen. Das “man“ in der Formulierung “man macht das so” darf keine Rechtfertigung dafür sein, nicht selbst und wohlüberlegt zu handeln. Gerade bei Fragen rund um uns selbst dürfen wir es uns nicht bequem machen. Die Kleidung ist dabei nur ein winziger Teil, ein Anfang.
Werde, der du bist
Pindar
Von elementarer Bedeutung ist, dass du achtsam bist und dich fragst, wie du handeln willst, was deiner Überzeugung nach richtig ist und wofür du stehst.
Meine Kinder frage ich immer: “Willst du von deiner Freundin/deinem Bruder/deinem Gegenüber so behandelt werden, wie du dich gerade verhältst?”. Diese kleine Übung macht achtsam – zumindest ist sie ein Anfang.
Wie kannst du also mehr zu dem werden, der du bist?
1️⃣ Sei achtsam und nimm deine Bedürfnisse wahr.
2️⃣ Nimm Haltung ein, auch wenn sie sich gegen den Strom richtet.
3️⃣ Setze dich für die Dinge ein, die dir wichtig sind.
4️⃣ Respektiere die Haltung deines Gegenübers.
5️⃣ Gehe in konstruktiven Austausch.
Hart in der Sache – weich zum Menschen
Jetzt sagst du vielleicht: Das klingt aber sehr anstrengend. Und ja, das stimmt. Gegen den Strom schwimmen erfordert mehr Kraft, als sich einfach treiben zu lassen. Aber es macht auch unglaublich glücklich. Warum? Es geht nicht darum, dass du deine Meinung überall durchsetzt. Aber du kannst Teil eines Diskurses sein, eines Gesprächs, auch ruhig im konstruktiven Streit. Damit kannst du zu einem gemeinsamen Schluss beitragen.
Als Grundlage für Auseinandersetzungen schätze ich sehr den Gedanken der Harvard-Wissenschaftler Roger Fisher und William L. Ury: „Hart in der Sache – weich zum Menschen“, sagen sie.
Trenne das Problem, über das du sprichst, vom Menschen. Du hast das vielleicht auch schon erlebt: Kaum äußerst du Kritik, geht dein Gegenüber in Abwehrhaltung, weil er sich persönlich angegriffen fühlt. Das passiert ziemlich schnell. Sobald du in den negativen Emotionen gelandet bist, wird es ganz schön schwer, auf die Sachebene zurück zu gelangen. Dabei geht es ganz leicht, wenn du das Prinzip Fisher/Ury befolgst.
Das Harvard-Prinzip lässt sich in vier Punkten zusammenfassen:
1️⃣ Sachbezogen diskutieren, nicht personenbezogen
2️⃣ Gemeinsame Interessen fokussieren, nicht abweichende Positionen
3️⃣ Alternativen entwickeln
4️⃣ Objektive Entscheidungskriterien festlegen
Wie du vom Problem zum Lösungsansatz kommst, habe ich auch in meinem Podcast #60 besprochen: Superkraft Lösung statt Problem. Hör gern rein.
Streitgespräche – Respektvoll sollen sie sein
Und was ist, wenn es zum Streitgespräch kommt? Dann solltest du darauf achten, dass ihr respektvoll miteinander umgeht.
Die meisten, die mich kennen, ordnen mich eher kantig als glatt geschliffen ein. Weil ich die Auseinandersetzung unterschiedlicher Meinungen nicht scheue. Im Gegenteil: Das konstruktive (!) Streitgespräch führt eher zur spannenden neuen Erkenntnis. Zentrale Spielregel dabei ist, sein Gegenüber wertschätzend zu behandeln.
“Respektvollen Klartext” nennt Andrea Rawanschad dies und hat die Prinzipien in ihrer Sketchnote festgehalten: Klare Worten alleine wirken wie ein Angriff mit einem scharfen Schwert. Wer in einem Gespräch an diesem Punkt angekommen ist, hat typischerweise kein Durchkommen mehr. Klare Worte mit Wertschätzung dagegen kommen durch.
Sprache ist stark und soll sich ausdrücken dürfen
Ein weiterer Punkt: Sprache. Im Geschäftsalltag führen wir viele Gespräche, und allzuoft begegnen mir dabei Floskeln. Dabei rauben uns leere Worthülsen wertvolle Zeit und vernebeln bisweilen gar den direkten Austausch. Wäre es nicht schön, einfach respektvollen „Klartext“ zu reden, um gemeinsam voran zu kommen?
Habe ich zu dem Gesprächspartner ein gutes Vertrauensverhältnis, könnte ich es direkt ansprechen. Ein enges Vertrauensverhältnis entsteht aber nur, wenn man es zulässt und nahbar ist. Kommen wir wieder zur Kleidung: Laut Knigge gilt die Faustformel “je höher die Position in der Hierarchie, desto dunkler die Kleidung”. Schwarze Kleidung sei ein Zeichen von Respekt (insbesondere Trauerfall). Sie hält andere auf Distanz. So betrachtet wäre mir ein nicht kniggekonformes, strahlendes und großgemustertes Jackett manchmal fast lieber.
Mutig sein
Es sind eher die distanzierten, recht festen Strukturen, die sich wie eine selbsterfüllende Prophezeiung gerade in großen Konzernen weiter um sich selbst drehen. Die immer weiter gegeben werden und sich so stetig festigen, statt Einfluss von außen wahrhaft wirken zu lassen. “Distanz abbauen” ist ein einfaches Prinzip, das auch im Großkonzern ein wichtiges Umdenken anstoßen kann.
Dabei war Angst noch nie ein guter Berater, und auch Vorsicht und Regelkonformität sind sicher kein Nährboden für Innovation und Fortschritt. Wir brauchen mutige Menschen, die vorangehen, auch kantige Entscheidungen treffen (dürfen) und sich etwas trauen. “Am Mute hängt der Erfolg”, sagte Theodor Fontane sehr treffend.
Ein schönes Beispiel für eine mutige Kommunikation habe ich kürzlich entdeckt: Der scheidende CEO von Merck, Stefan Oschmann, hat zu seinen letzten Tagen im Büro ein brillantes Video veröffentlicht. Darin kann man Oschmann – ironischerweise im blaugrauen Anzug – beobachten, wie er sich einen letzten Kaffee brüht, den Kopierer bedient oder etwas aus dem Snackautomaten zieht – und schließlich ein persönliches Abschiedswort spricht. DAS hätte ich von einem DAX-Konzern nicht erwartet. Das Video macht den Konzernchef greifbarer als jede Kennziffer der Bilanz und sagt wiederum so viel mehr über das Selbstverständnis des Unternehmens aus.
Mut zur Individualität tut uns gut
Ich wünsche mir mehr Aufbruchsstimmung und Mut zu Individualität und konstruktivem Dialog. Das täte schon unseren Jüngsten gut, denn die Prägung von Stereotypen beginnt bereits im Kindesalter. Dabei brauchen wir starke Frauen und Männer mit Ecken und Kanten, die unsere Wirtschaft und Gesellschaft der Zukunft prägen und nach vorne bringen. Die sind, wer sie sind. Und die in all ihrer Pluralität und Individualität gemeinsam und kreativ Lösungen für alle Menschen gleichermaßen entwickeln: Für Menschen mit Kostüm oder Anzug wie für jene ohne.